I racconti del Premio Energheia Europa, Premio Energheia Europa

Visitenkarten, Selin Stark

Gewinner des Energheia Deutschland Award 2024

Auf einen Bus zu warten, der nur zwei Mal am Tag fuhr, konnte bei einer schlechten
Zeitplanung recht lange dauern. Die Wartezeit wurde durch ungünstige Wetterverhältnisse
zusätzlich erschwert, da die alte Holzhütte, die hier früher einmal gestanden hatte, durch eine
Baustelle und ein Bushaltestellenschild ersetzt worden war. So standen die Fahrgäste Mitte
November neben dem Schild und trotzten gemeinsam Wind und Wetter. Unter ihnen war eine
ältere Dame mit Kopftuch, getragen aus Gewohnheit, nicht Überzeugung, einem grauen
Stoffrock, schwarzen orthopädischen Schuhen und einer mageren Lederhandtasche. In der
Hand hielt sie einen Regenschirm groß und unpraktisch, aber mit Holzgriff und Spannweite.
Spannweite, die bei Nässe gerne mit den anderen Wartenden geteilt wurde.
„Mein Schirm ist groß genug, stellen sie sich doch zu mir, junger Mann.“ Der Vierzigjährige
stand mit dem Handy in der einen und einer gut befüllten Aktentasche in der anderen Hand
neben ihr. Er war groß, schlaksig und trug eine moderne Hornbrille auf der schmalen Nase.
Sein dunkelbraunes Haar, sah von der Nässe fast schwarz aus. Auf dem sonst glattrasierten
Kinn, waren heute Bartstoppel zu sehen. Sichtlich erleichtert, trocknete er zum wiederholten
Male das nasse Handydisplay an seiner mittlerweile feuchten Anzughose und duckte sich, um
neben der älteren Dame Platz zu haben. „Vielen Dank!“ lächelte er zu ihr herab.
„Wollen sie den Schirm vielleicht halten? Dann müssen sie sich nicht bücken.“ Gerne nahm
er das Angebot an und hob den Regenschirm in ihm unbekannte Höhen. „Normalerweise
fahre ich ja mit dem Auto in die Arbeit. Aber meine Frau ist gestern Abend spontan mit
meinem Auto in den Urlaub gefahren. Also muss es heute der Bus sein.“, bricht er die Stille
unter dem Schirm. „Was machen sie denn für eine Arbeit?“
„Ich bin Webdesigner in der Stadt. Ich habe zwar die Möglichkeit im Homeoffice zu arbeiten,
aber heute wollte ich unter Menschen sein.“
„Was macht denn ein Wäpdeseiner?“ Er schmunzelt. „Ich designe Internetseiten.“
„Dann kennen sie sich mit dem Internet aus?“, fragt sie.
„Nun, bestimmt nicht so gut wie die Jugend von heute, aber ja, das würde ich behaupten.“
„Können sie über das Internet jemanden ausfindig machen?“
„Ausfindig?“, fragt er verwundert. „Ja. Ich suche jemanden. Aber heutzutage steht niemand
mehr im Telefonbuch.“ „Nun, über Social Media lassen sich Menschen recht leicht finden.“
„Soschl…?“ Jetzt kann er sich ein kurzes Auflachen nicht verkneifen. „Social Media. Ein
modernes Telefonbuch, wenn sie so wollen. Haben sie schon mal von Facebook gehört?“
„Nein.“ Sie schnauft leise, greift ihre Ledertasche fester und beginnt, von einem auf den
anderen orthopädischen Schuh zu treten. „Wen suchen sie denn? Ich könnte mich auf
Facebook schlau machen.“, versucht er die Stimmung wieder zu heben.
„Meine Tochter.“ Lange hört man nur das Prasseln der Regentropfen auf dem
Regenschirmdach. In der Ferne wird das Dröhnen eines alten Dieselmotors lauter.
„Ich habe seit einem Jahr nichts mehr von ihr gehört, die Polizei hilft bei solchen Fällen nicht.
Da dachte ich, dass ich sie vielleicht über das Internet finden kann. Aber die Computer in der
Stadtbibliothek sind so schrecklich verwirrend.“
„Ich kann es gerne versuchen“. Lächelnd schaut sie zu ihm auf. „Wirklich? Damit würden sie
mir eine unglaubliche Freude machen, junger Mann.“ Sie öffnet ihre Ledertasche, holt ein
kleines Kärtchen hervor und hält es ihm hin. „Hier, das ist meine Visitenkarte. Rufen sie mich
auf dem Haustelefon an, wenn sie etwas gefunden haben.“ Da sieht man den Stadtbus um die
Ecke biegen. Der Mann nimmt die Visitenkarte entgegen. „Ich kann ihnen nichts
versprechen“ Sie nickt und lächelt wieder. „Natürlich! Ich bräuchte nur eine Telefonnummer,
wissen sie? Ich glaube, wir könnten alles klären, wenn wir nur miteinander sprechen würden“
Der Bus hält ruckartig vor den beiden Wartenden. Während der Mann einsteigt, bleibt sie
stehen. „Fahren sie nicht mit?“, fragt er, mit einem Bein schon im Bus.
„Die wartet auf einen Bus, der nie kommt“, antwortete ihm der untersetzte Busfahrer. Der
Mann drehte sich erstaunt über so viel Grimmigkeit am Morgen, zum Busfahrer um. Der
tippte mit seinen dünnen Fingern nervös an das Steuer, wippte mit dem Bein und roch nach
Rauch. „Selbst wenn sie mich bei dem Gespräch anschreien würde, ein schlechtes Gespräch
ist immer noch besser als keins.“, erwiderte die ältere Dame, als hätte sie den Grimmigen
nicht gehört. Der Busfahrer schnaubte nur und schloss die Bustüren, was den Mann ruckartig
einsteigen ließ. Er winkte der Dame noch einmal zu, doch zu sehen war nur noch der
Regenschirm. Etwas verwirrt setzte er sich an einen Fensterplatz im hinteren Teil des Busses,
weit weg von dem unfreundlichen Busfahrer. In der Hand hielt er immer noch die
Visitenkarte und dachte an das verwirrende Gespräch am frühen Morgen und das
Streitgespräch vom gestrigen Abend, das er mit seiner Frau geführt hatte. Aus seiner
Aktentasche kramte er einen Kugelschreiber und schrieb auf die Rückseite der „Visitenkarte“,
auf der kein Name, sondern lediglich eine Festnetznummer stand: „Ein schlechtes Gespräch
ist besser als keins“. Die gesamte Fahrt saß er dort, starrte auf den Satz, ließ die Landschaft
an sich vorbeiziehen und sah erst auf, als sie von der Landstraße in Richtung Innenstadt
abbogen und seine Bushaltestelle schließlich in Sichtweite kam. Kopfschüttelnd legte er die
Visitenkarte neben sich und holte das mittlerweile trockene Handy aus der Hosentasche.
Nervös wählte er die Nummer seiner Frau. Das Klingeln im Sitzen nicht aushaltend, stand er
auf und drückte dabei die Stop-Taste. „Ja, hallo Schatz.“ Er räusperte sich. „Ich hoffe, du bist
gut im Hotel angekommen?“ Als der Busfahrer den Bus abrupt an der Haltestelle halten ließ,
stieg er aus. „Ich will nochmal in Ruhe über gestern Abend reden…“ An ihm drängelte sich
eine junge Dame vorbei. Den kupferroten Lockenkopf über den rücksichtlosen Aussteigenden
schüttelnd, stieg sie in den Bus. Auf der Suche nach einem Sitzplatz, lief sie an einem Mann
vorbei, dem sein blonder Schopf im Schlaf auf die Brust gefallen war. Neidisch schaute sie
auf den Schlafenden und setzte sich mit einem Schnaufen auf einen freien Fensterplatz. Sie
war blass um die sommersprossige Nase und hatte dunkle Schatten unter ihren hellbraunen
Augen. Ihr Tag hatte verschlafen, ohne Warmwasser und im Stress begonnen. Der Nachbar
von rechts, renovierte seit drei Monaten seine 1-Zimmer Wohnung, wobei sie der festen
Überzeugung war, dass er mittlerweile nur noch wahllos in Wänden bohrte, um sie verrückt
zu machen. Heute hatte das sinnlose Bohren seinen Höhepunkt erreicht, als er die
Warmwasserleitung erwischte. So setzte sie sich genervt, von der kurzen und eiskalten
Dusche durchgefroren und mit fettigem Haar auf den freigewordenen Fensterplatz. In letzter
Zeit hatte sie kein Glück. Zuerst das ewige Streiten mit ihrer Schwester, dann das
unermüdliche Bohren und dann noch ihr Job, für den ihr seit Wochen die Energie fehlte. Sie
war müde. Also schlief sie. Auf der Arbeit, dem Sofa, im Bus, nur nicht in ihrem Bett und
niemals nachts. Erschöpft atmete sie tief durch und knüllte ihren dicken Schal zu einem
Kopfkissen zusammen. Bis zu ihrer Haltestelle im Zentrum, waren es nur wenige Minuten,
doch in ihrem Zustand, war sie froh um jede Minute Schlaf, die sie sich erkämpfen konnte. Da
erblickte sie das weiße Viereck neben sich. „Ein schlechtes Gespräch ist besser als keins“.
Mit dem Kopf am Busfenster und dem Blick auf der Visitenkarte dachte sie lange nach.
Schlechte Gespräche hatte sie zu genüge gehabt, wochenlang mit Betti und schließlich
wochenlang, nachts mit sich selbst. Sie legte die Karte neben sich, holte ihr Handy mit dem
zersprungenen Display aus ihrem verschlissenen Rucksack und wählte „Bettis“ Nummer.
Während sie dem Klingeln lauschte, zerknüllte sie den Schal zwischen ihren Händen. „Hey
Betti…ich bin’s, Nina. Konnte dich leider nicht erreichen, du arbeitest bestimmt. Ich bin
gerade auf dem Weg zur Arbeit und musste an dich denken. Hier hat jemand eine Visitenkarte
liegen lassen. Die hätte dir gefallen, richtig mysteriös. Da steht nur eine Telefonnummer
drauf, kein Name. Du hättest dir wahrscheinlich tausende Geschichten überlegt, um das
Ganze zu erklären. Und ich hätte gelacht… Naja, ich musste deshalb an dich denken und da
wollte ich dich einfach mal anrufen.“ Lange sagte sie nichts, nahm zitternd Luft und griff den
Schal noch fester. Sie wollte nicht weinen, nicht hier im Bus, nicht schon wieder. „Das war
gelogen. Ich musste nicht erst wegen der Visitenkarte an dich denken, ich denke ständig an
dich, ich will dich auch ständig anrufen, mit dir reden. Betti ich weiß nicht mehr, wer wir
sind. Ich vermisse Papa so sehr…und dich. Ich hasse den Gedanken, dass wir ihn getrennt
vermissen. Und alles nur, weil wir so unglaublich stur sind. Ich weiß, dass wir nicht so tun
können, als wäre nie etwas passiert, als hätten wir uns auf der Beerdigung nicht Sachen an
den Kopf geworfen, die Papa uns niemals verzeihen wird. Aber vielleicht könnten wir
anfangen uns zu verzeihen? Oder zumindest miteinander zu reden? Bitte rede mit mir,
meinetwegen kannst du mich auch anschreien, aber rede mit mir.“ Sie legte auf und wischte
sich mit dem auf ewig zerknüllten Schal die nassen Wangen trocken. Als der Busfahrer
„Endstation!“ schrie, stieg sie aus. Nach ihr zwängte sich eine Familie mit vier kleinen
Kindern in den Bus. „Hey! Erst aussteigen lassen! Nicht drängeln! Wir fahren eh erst in zehn
Minuten weiter“, schimpfte der Busfahrer in seinen Lautsprecher. Der blonde Mann, der
schon die gesamte Fahrt im Zweier neben Nina gesessen hatte, schreckte aus seinem Hörbuch
hoch. Als er sich umsah, erkannte er, dass er mal wieder eingeschlafen war und seine
Haltestelle verpasst hatte und nun warten musste, bis der Bus zurückfuhr. Seufzend ließ er
seinen Blick neben sich wandern und entdeckte das zerknickte Papier und sprang auf. „Hey,
sie haben ihren Zettel vergessen!“ rief er zwischen den offenstehenden Bustüren und
zankenden Kindern hindurch. Genug Energie, um der Frau hinterherzulaufen, hatte er nicht.
Den Zettel glättend, setzte er sich wieder auf seinen Platz. „Ein schlechtes Gespräch ist
besser als keins“. Er lächelte, fuhr mit der Hand über sein zerknittertes, weißes Hemd und
dachte dabei an Markus. Markus, den er seit Wochen anrufen wollte, aber es nie schaffte. Oft
hatte er nicht genug Zeit, um einem Gespräch mit seinem besten Freund gerecht zu werden,
und wenn er lang genug Zeit hatte, weil das Baby endlich eingeschlafen war, fielen ihm
einfach die Augen zu. Er wünschte der kleine Milo würde so schnell einschlafen wie seine
Eltern. Aber Milo schien sein erstes Lebensjahr im Kampf gegen den Schlaf und seine Eltern
verbringen zu wollen. Je länger er Markus nicht anrief, desto schlechter wurde sein Gewissen.
Das Gespräch, dass vor Wochen nur zehn Minuten hätte dauern können, müsste jetzt
mindestens eine Stunde dauern, davon war er überzeugt. Eine Stunde, die er nur theoretisch
hatte. Und so vermisste er seinen besten Freund, weil er dachte, ihm nicht gerecht werden zu
können, einer Freundschaft nicht gerecht werden zu können, die schon immer zu großen
Teilen aus friedlichem, gemeinsamem Schweigen bestanden hatte. Kopfschüttelnd lachte er
über sich selbst und wählte Markus‘ Nummer, während der Bus losfuhr. „Hey! Ich hätte nicht
gedacht, dass ich dich so früh am Morgen erwische.“ Markus´ Antwort brachte ihn wieder
zum Lachen, jetzt erreichte es sogar seine dunklen Augenringe. „Ja, ich lebe noch. Dich will
ich mal mit einem Kind sehen, du kannst ja kaum auf dich selbst aufpassen.“ Darauf folgte
ein spitzer Kommentar seines besten Freundes, der ihn wieder laut auflachen ließ. „Du bist
ein Idiot. Ich bin ein toller Vater, wenn du mal vorbeikommst, wird dir das Milo auch
erzählen. Dann kannst du dir auch mal anschauen, was passiert, wenn sich ein schöner
Mensch fortpflanzt. Der Junge wird mal zum Adonis. Seine Mutter kann ihm jetzt schon
nichts abschlagen. Wenn er nur mal durchschlafen würde…“ Ruckartig setzte er sich auf und
suchte seine Sachen zusammen, dabei fiel die Visitenkarte auf den dreckigen Busboden.
„Scheiße! Jetzt hätte ich fast meine Bushaltestelle verpasst. Kaum telefoniere ich mit dir, wird
mein Leben wieder chaotisch…“. Lachend drückte er sich an den, durch iPads ruhiggestellten,
Kindern vorbei und half einer älteren Dame dabei ihren Einkaufstrolley in den Bus zu heben,
bevor er schließlich selbst ausstieg. Sie schob eine graue Strähne, die sich aus ihrem strengen
Dutt verirrt hatte, hinter ihr mit Perlen bestücktes Ohr und lächelte dem charmanten jungen
Mann zu. „Vielen Dank!“ Sie schob ihren, nach dem Besuch auf dem Wochenmarkt, gut
gefüllten grünen Trolley zu den Sitzen in der Mitte des Busses, die für ältere Menschen und
Schwangere reserviert waren und setzte sich. Aus der vorderen Tasche ihres Trolleys holte sie
ihr altes Tastenhandy. Während sie ihre Kontaktliste nach „Zuhause“ durchsuchte, fiel ihr
Blick auf das dreckige Papierstück vor ihren Füßen. „Ein schlechtes Gespräch ist besser als
keins“. Sie lächelte, steckte das Kärtchen ein und scrollte in ihrer Kontaktliste weiter zum
Buchstaben Z. Bei „Welling, Hilde“ blieb sie hängen. Verweilte kurz und drückte schließlich
die grüne Taste. Nach langem Warten antwortete Hilde. „Ja hallo Hilde! Meier, Bärbel hier!
Hilde? Hörst du mich? … Schön, dass wir uns hören. Wie geht’s dir?“ Nach Hildes Monolog,
tauschten sie ihre Krankheitsakten aus. Als jedes noch so kleine Wehwehchen der beiden,
ihrer Ehemänner und aller Nachbarn besprochen war, stieg die ältere Dame aus. „Hilde,
erinnerst du dich noch an den alten Konstantin? … Ja genau, der Hundezüchter. Du, dem ist
jetzt der Zuchthund gestorben. … Da hast du Recht. Ich fand das ja immer schon komisch, wie
er die Hunde da gehalten hat… wie die Tiere. Jetzt ist auf jeden Fall Schluss. Die Rübners,
die in euer altes Haus gezogen sind, haben jetzt einen Wintergarten…. die Bauarbeiten waren
schrecklich laut, und lang haben die gedauert. Heutzutage bekommt man einfach keine guten
Handwerker mehr. Naja, wie ist es bei euch? Gefällt es euch im Süden?“ Während Hilde über
den Süden jammerte, rollte ihre Gesprächspartnerin mit ihrem Trolley an einem ungleichen
Gesprächspaar vorbei. Eine ältere Dame, die sich auf ihren Regenschirm stützte, sprach eine
jungen Mutter, die ihren nagelneuen, aber retroaussehenden Kinderwagen an der
Bushaltestelle vorbeischob, an. „Junge Dame, dürfte ich Sie kurz stören?“
„Natürlich.“, sie blieb neben der älteren Dame stehen. Diese beugte sich vor und lächelte das
kahlköpfige, in Rosa und Blümchenmuster gehüllte, Baby an. „Wen haben wir denn da? Wie
alt ist denn die Kleine?“
„Fast acht Wochen.“
„Herzlichen Glückwunsch meine Liebe! Und wie alt ist die Mama?“
„Fast dreißig.“, lachte die junge Frau. Die beiden lächelten und sahen sich eine Weile das
friedlich schlafende Baby an. „Ich war auch dreißig, als ich meine Tochter bekommen habe.“
Die ältere Dame richtete sich etwas auf und kramte eine kleine weiße Visitenkarte aus ihrer
Tasche. „Sie kennen sich doch bestimmt mit dem Internet aus, oder?“