Klassiker aber kniehoch, Sophie Marie Werner
Gewinner des Energheia Austria Award 2022
In der Wohnungsanzeige stand Platzwunder. Den Satz hätte man vielleicht mit einem
Fragezeichen beenden sollen. Die Wohnung ist klein, kuschelig, heimelig. Euphemismen für:
stickig. Gut angebunden las die Annonce. Das ist richtig. Das unverkennbare, leichte vibrieren,
welches die vorbeirauschenden Züge und Schnellbahnen erzeugen, lassen einen die Nähe
wahrlich spüren. Die Maklerin erklärte, dass viele Restaurants und Bars in Gehnähe sind. Auch
das hat sich bewahrheitet. Vom Badezimmer aus ist das Taiwanesische Lokal im Erdgeschoss
lediglich einen Katzensprung entfernt. Ich hatte schon immer etwas für Frankreich übrig —
Baguette, Café au Lait, die Côte d’Azur und jetzt meine ganz persönliche Garçonnière.
Ursprünglich bin ich auf dem Land aufgewachsen und habe am liebsten den ganzen Tag draußen
verbracht. Die Nähe zur Natur war prägend, ebenso die Faszination meiner Familie mit der Jagd.
Früh habe ich selbst das Jagen erlernt und schon bald wusste ich wie man sich in der Natur tarnt,
um seinem Opfer auflauern zu können. Mein rotes Haar jedoch, hat diese Urform des
Versteckspiels für mich oftmals fordernder gestaltet als für die Anderen. Generell war die Jagd,
trotz des frühen Heranführens an die Materie, nie mein Forte. Zwar kann ich diesem Veganismus
auch nichts abgewinnen — muss ja jeder auch für sich selbst entscheiden — aber dankbarerweise
kann man den Fleischkonsum auch durch den Gang zum Supermarkt decken.
Wenn ich mich heute nach Kindheit sehne, suche ich mir einen sonnigen Platz, schließe die
Augen und denke daran zurück, wie wir früher Stunden lang im hohen Gras die Sonne angebetet
haben. Die Gräser raschelten bei jedem kleinen Luftzug und schmiegten sich wohlig und
angewärmt von der Sonne an unsere Körper. Vögel zwitscherten über unseren Köpfen und das
Summen der Bienen auf der Suche nach Pollen schwang unterschwellig ganztäglich mit.
Manchmal konnte man in den Wolken Formen erkennen — einen Schuh; Löffel, Gabeln oder ein
ganzes Besteck-Set; ein Herz; mitunter Hoffnung. An anderen Tagen war der Himmel so blau,
dass man sich beim zu Langen hinschauen darin verlieren konnte und einen scharfen Stich im
Auge verspürte, als ob die Natur vor der eigenen Gier warnen würde. Das Harz und die feuchte
Luft des Waldes verströmten einen unwiderstehlichen Geruch von Geborgenheit. In diesen
Momenten hätte unsere Welt auf einen Stecknadelkopf gepasst und wäre gleichzeitig zu groß
gewesen, um sie in sieben Leben zu erkunden.
Irgendwann bin ich dann in die Stadt gezogen. Mittlerweile bin ich dankbar, wenn Echtholz-
Parkett statt Laminat verlegt wird und sitze gerne am Fensterbrett und schaue auf meine neue
Welt hinaus — oder zumindest die Welt, die sich mir von diesem Winkel aus erschließt. Meine
Mitbewohner nennen mich Hitchcock. Ganz verstanden habe ich es nicht aber irgendetwas in
meiner Manier, mit dem Blick aus dem Fenster zum Hof, fanden sie schrecklich amüsant. Mir
soll die Betitelung recht sein; die Mitbewohner sind sauber, zumeist ruhig und meiner
Gesellschaft immer wohlbesonnen. Mit Kathi, meiner langjährigen und konstanten
Mitbewohnerin, lebte ich seit meinem Umzug in den Großstadtdschungel zusammen. Daneben
haben wir temporär auch immer wieder Andere behaust. Zumeist waren es Männer, welche
Schwierigkeiten hatten den Geschirrspüler einzuräumen oder pünktlich zu Verabredungen zu
erscheinen. Prinzipiell hat sich Kathi die Auswahl der Mitbewohner aufgebürdet, jedoch hat es
sich mir bis heute nicht erschlossen, ob sie konsequent eine schlechte Wahl getroffen hat oder
diese Männer als Herausforderung, als Passionsprojekt, sah. Vor allem, wenn man bedenkt, dass
diese Odyssee Kathi psychisch und physisch immer sehr mitgenommen hat. Nicht nur einmal hat
sie weinend auf dem Sofa gesessen und mir ihr Leid geklagt. Sogar zum Arzt musste sie
anscheinend ein paar Mal wegen dieser emotionalen Überforderung oder wie Kathi immer
gemeint hat: „Dr. Seuss wird es schon richten.“
Ich habe Kathi gern, eine Empfindung die, wie ich meine, auf Gegenseitigkeit beruht. Wir
verbringen viel Zeit miteinander, wobei wir trotzdem von Anfang an wussten einander Raum zu
geben. Eine sehr spezifische Gemeinsamkeit, die uns eint, ist die Liebe zu lauen
Sommerabenden. Jedes Fenster — gut allzu viele sind es in unserer Wohnung nicht — wird an
genau diesen Sommertagen zwischen Juli und September aufgerissen und die stickige Luft aus
dem Inneren durch eine dezent kühlere Brise Stadtluft ausgetauscht. Der Geruch von
Taiwanesischen Spezialitäten überrumpelt einen im ersten Moment ein wenig, aber schnell
gewöhnt man sich auch daran. Das Gelächter der Gäste aus dem Innenhof hallt bis in den vierten
Stock und es fällt schwer nicht zu schmunzeln bei diesen ansteckenden Ansammlungen von
Lebensfreude. Ich setze mich aufs Fensterbrett und blicke auf die glitzernde Stadt unter mir —
Diese Stadtluft macht frei! Was mehr kann man sich als Kater wünschen?
Unsere Sicht ist ungehindert, denn das direkt gegenüberliegende Zinshaus fällt einen Stock
kürzer aus als jenes, welches wir bewohnen. Zugegebenermaßen, die Möglichkeit alle Anderen
durch ihre alten (und im Winter reichlich zugigen) Doppelfenster zu beobachten wirkt dem
leichten Anflug von Gottkomplex in dieser physisch erhabenen Machtposition nicht entgegen.
Das Erdgeschoss und der Mezzanin gehören zu einer kleinen Boutique. Im ersten Stock wohnen
zwei Familien mit je drei Kindern, es gleicht wahrlich einem Zoo (oder Wanderzirkus, wenn sie
beschließen übers Wochenende in ihr ländliches Ferienhaus zu fahren). Im zweiten Stock wohnen
ein kinderloses Pärchen und eine Familie mit einem Neugeborenen. Da beide Parteien es
bevorzugen ganzjährig die Jalousien heruntergelassen zu haben, weiß ich über dieses Geschoss
am wenigsten.
Im dritten Stock wohnt Julia. Meine Julia. Ich könnte Sie vergleichen mit einem meiner geliebten
Sommertage und sie wäre doch immer noch bezaubernder; eine englische Rose, wenn ich je eine
gesehen habe. Jeden Tag sitzt sie auf dem nach Osten-ausgerichteten Balkon, ihr silbrig
glänzendes Britisch-Kurzhaar Fell strahlt mit der Sonne um die Wette und die samtig weichen
Pfoten bewegen mich dazu zu überdenken wie figurativ die Redewendung ‚aus der Hand fressen‘
wohl wirklich ist. Wir sind einander so nah und doch so fern. Oft schon war ich kurz davor
hinüber auf den Balkon zu rufen und Julia meine Liebe zu gestehen. Doch was, wenn sie sie nicht
erwidert? Oder schlimmer, sie ihr Herz bereits einem anderen schuldet? Ich müsste mich von
meinem Fensterbrett stürzen, um dieser Realität zu entfliehen und darauf zu hoffen, dass Julia
und ich im nächsten Leben eine Chance haben — sechs hätte ich ja noch.